Gespräch über Freiheit im Magazin des Tagesanzeigers vom 2. April 2022:
Fabienne Verdier / Zeichen der Stille
Muséé Unterlinden, Colmar
Albert Camus / Der erste Mensch
Albert und Lucien um 1920
Le Lycée Bugeaud um 1924
Le Tramway d’Alger
ترامواي الجزائر
Hannah Arendt über das Geborensein: Jede:r ist der erste Mensch
Blick aufs Meer / Elisabeth Strout
Rezensionsnotizen:
- Konservativ im besten Sinne …
- Klassisches Leseglück …
- Nie sentimental, aber immer lebensklug …
- Strout erzählt von den besseren und den böseren Seiten menschlichen Verhaltens und spart dabei weder Abgründe noch unglückliche Einsichten aus.
Trotzdem lesen?
Francis McDormand spielt (ist) Olive Kitteridge.
Erste Person Singular / Haruki Murakami
Rezensionsnotizen 2021
… sich von der Welt überraschen zu lassen.
… Meisterdetektiv folgenreicher Nichtigkeiten.
… Texte über alleinstehende junge Herren ohne besondere Eigenschaften oder Ziele.
… atmosphärische Dichte und eine Melancholie unter der es gärt.
… ein gefälliger «Pseudo-Mystiker».
… typische Murakami-Momente, in denen das Wunderliche Teil der Normalität wird.
… unterhaltsames literarisches Vexierspiel.
… konfrontiert seine Figuren mit Unerwartetem, ja Unverständlichem und lässt die Lesenden damit alleine.
Vom Aufstehen / Helga Schubert
Interview mit Helga Schubert in «52 beste Bücher / SRF»
Thema: Väter
Monika Helfer / Vati
Annie Ernaux / Der Platz
Edouard Louis / Wer hat meinen Vater umgebracht
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen / Elena Ferrante
NZZ am Sonntag:
Neuer Roman von Elena Ferrante: Erwachsen werden heisst Lügen lernen
Personal
Kostbare Tage / Kent Haruf
Peter Helling, NDR Kultur, 26.05.2020
Der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf, 1943 als Sohn eines methodistischen Reverends geboren, hat sechs Romane geschrieben. Sie alle spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt bei Denver, Colorado, wurden mehrfach prämiert, etwa mit dem Writers› Award. Sein letzter Roman, «Unsere Seelen bei Nacht», wurde mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt. «Benediction» heißt sein vorletzter, er erschien 2013 in den USA und unter dem Titel «Kostbare Tage» jetzt im Diogenes-Verlag.
Der Sommer liegt schwer auf dem Land. Dad Lewis stirbt, 77 Jahre ist er alt, er hat Krebs. Er lebt in Holt, einer Kleinstadt bei Denver. Mit der Diagnose beginnt dieser Roman. Kent Harufs «Kostbare Tage» ist die Geschichte einer ablaufenden Frist.
Der Roman «Kostbare Tage» ist grobe, ja kunstlose Prosa, unwillkürlich denkt man an den großen Roman «Stoner» von John Williams. Frauen pflegen, waschen einen sterbenden Körper. Gesten von selbstverständlicher Wärme.
Aber es geht um viel mehr als um einen sterbenden Mann. Das Buch bietet einen Einblick in die Seele der Vereinigten Staaten, eines zerrissenen Landes, schon 2013, als Kent Haruf den Roman geschrieben hat. Er selbst ist 2014 gestorben und dass sein Roman jetzt auf Deutsch erscheint, ist ein Glücksfall.
Das Sterben dagegen wird schmerzhaft genau beschrieben, da wird die Lektüre qualvoll. Fast zu schwerfällig. Kent Haruf zeichnet Bilder wie von Edward Hopper. Das heiße Licht fällt über Veranden auf Menschen, die mit trübem Blick hinter Fenstern sitzen. Ein tristes Burger-Essen im Diner. Einsam, unglücklich? Hier sind sie es alle.
Kent Haruf versteht es genau, den Besuch des Feuerwerks zum Independence Day, samt knackenden Mikros und aufgeblasenen Ritualen, als Freiheitsmoment zu zeichnen: als Alice sich an Lorraine lehnt, die gerne ihre Mutter wäre. Haruf schreibt knochentrockene Hauptsätze, webt ungekünstelte Dialoge.
Doch dann: Am Tag des Todes von Dad ist Alice plötzlich weg. Im «Wunderland» ist sie nicht.
Leben und Tod stehen sich wie alte Nachbarn gegenüber. Nur durch eine staubige Straße getrennt. Ein Roman, durch den man sich hindurch wühlen muss, er ist weder gefällig noch elegant, weder metaphysisch noch psychologisch. Aber sein mahlender Rhythmus, dieser erzählerische Fluss, zieht in den Bann. Am Ende weht ein Blizzard über das trockene Land, verwischt die Spuren.
Sprache und Sein / Kübra Gümüşay
Museum der Sprache
Eine Kolumne von Nina Kunz
Das Magazin N°10 – 7. März 2020
Kübra Gümüşay, eine deutsche Journalistin, hat ein wichtiges Buch geschrieben mit dem Titel «Sprache und Sein».
Es handelt von der Frage, wie wir eine Sprache finden können, die nicht
verletzend ist, und dazu hat Gümüşay einiges zu sagen. In den letzten
Jahren wurde sie, als kopftuchtragende Feministin, nämlich häufig in
Talkshows eingeladen, um mit anderen Gästen über den Islam zu
diskutieren. Und während diese oft gegen «die Türken» oder die
Willkommenskultur wetterten, hatte sie die undankbare Aufgabe, Fakten
dagegenzuhalten. Irgendwann war sie es aber leid, immer auf Angriffe
reagieren zu müssen – was sie dazu veranlasste, dieses Buch zu
schreiben.
Als Erstes erzählt Gümüşay, wie häufig es ihr schon passiert sei, dass
sie in Gesprächssituationen nicht richtig gehört wurde – und stellt dazu
die These auf, dass Menschen, die einer Minderheit angehören, oftmals
nicht als Individuen wahrgenommen werden, sondern als Vertreterinnen und
Vertreter einer Kategorie. Sie erklärt: Während einige Menschen in der
Gesellschaft das Privileg haben, facettenreiche und autonome Personen zu
sein, werden andere sofort in einen Klischeekäfig gesteckt: Aha, ein
Ostdeutscher. Aha, ein Türke. Oder in ihrem Falle: Aha, eine
Kopftuchträgerin.
So stellt Gümüşay rückblickend auch fest, dass sie nie «als sich selbst»
in diese Talkshows eingeladen wurde, sondern – ihrer Kategorie
entsprechend – «als Stellvertreterin für alle muslimischen Frauen
Deutschlands». Dies, gepaart mit dem Fakt, dass sie sich immer
rechtfertigen musste, führte irgendwann dazu, dass sie sich selbst nur
noch als «Kopftuchträgerin» sah – was schmerzte.
Um zu erklären, was hier passiert ist, lädt uns Gümüşay ein, die Sprache
als «Museum» zu denken. Bisher, so die Autorin, wurde dieses Museum von
Menschen eingerichtet, die in irgendeiner Form Macht besitzen. Sie
haben ihre Sichtweise auf die Welt als «Norm» festgesetzt und alles, was
ihnen wie ein «Objekt» vorkam, in Vitrinen gesteckt: Katzen, Klaviere,
Gabeln, aber eben auch Ostdeutsche, Türken oder Menschen, die ihnen
sonst irgendwie «fremd» vorkamen. Deshalb gebe es heute diese
Stereotypen, die gewissen Menschen jede Form von Individualität
absprechen.
Damit sich dies ändert, müssen laut Gümüşay zwei Dinge passieren.
Erstens sollten die Kuratoren der Sprache die Menschen in den Vitrinen
dazu einladen, das Museum mitzugestalten. Wenn diese nämlich auch etwas
zu sagen hätten, würde sehr bald klar, dass es Irrsinn ist, Menschen in
Kategorien einzuteilen. Und zweitens sollten die Menschen, die heute als
das «Andere» gelten, aus ihrem Klischeekäfig ausbrechen, indem sie sich
das Recht erkämpfen, facettenreiche und selbstbestimmte Individuen zu
sein. Gümüşay selbst ist es leid, sich immer erklären zu müssen, und
will daher nie wieder «als Kopftuchträgerin» auftreten – sondern nur
noch: als Person.
Kübra Gümüşay liest am 29. März um 20 Uhr im Zürcher Kaufleuten.
Nina Kunz ist Historikerin und Journalistin.