Unrast / Olga Tokarczuk

Der Zufall und das Ich sind die Reiseführer.

«Dieser Abend ist der Rand der Welt, ich habe ihn zufällig und absichtslos beim Spiel ertastet.» So heißt es im ersten Kapitel von Tokarczuks Buch «Unrast», für den sie 2007 den wichtigsten Literaturpreis Polens erhielt. Der Zufall und das Ich sind hier die Reiseführer. Erinnerungen, Mini-Essays und Erzählungen lösen sich darin ab, auch Zeichnungen, Landkarten, die Darstellungen alter Atlanten sind in diesem Nichtroman zu finden.

Von Chopins Herz bis zur Zunge als stärkstem Muskel der Welt reichen die Themen, von der Eselszucht bis zur Flughafenarchitektur: Hier ist eine, die sich nicht auf ein Genre festlegen will, auch nicht auf einen Stil. Das Patchworkhafte, das Unstete und die Minuteneinsicht sind das Verbindende, selbst Tokarczuks Sprache – im melodischen und souveränen Deutsch ihrer Übersetzerin Esther Kinsky – hat etwas Schlenderndes.

Elke Schmitter, Spielgel online

Von dieser Welt / James Baldwin

Am Freitag, 20. September 2019, 17 Uhr bei Martina

American writer James Baldwin poses in front of his typewriter in his house, March 15, 1983, Saint Paul de Vence, France. (AP Photo)

Tagesanzeiger vom 06.10.2016

Der «Neger» mit der Schreibmaschine

James Baldwin war in den 50er-Jahren als Schwarzer im Walliser Badeort Leukerbad eine Sensation. Er reflektierte dort über Rassismus und vollendete sein Romandebüt: «Gehe hin und verkünde es vom Berge» (2019: «Von dieser Welt»)

Er fuhr auf Besuch für zwei Wochen. Das war im Sommer 1951. Danach wollte James Baldwin nie mehr wiederkehren in dieses Kaff mitten in einem Postkartenpanorama, wo es keine Anregungen für ihn gab, nur die misstrauisch-sensationshungrigen Blicke der Erwachsenen und die Angstlustschreie der Kinder – «Neger!, Neger!» –, wenn sie ihn auf der Strasse sahen. Doch im Winter nach diesem Sommer des Missvergnügens zog Baldwin trotzdem mit Sack und Pack, seinem Plattenspieler und seinen zwei Lieblingsplatten von Bluessängerin Bessie Smith für ein paar Monate ins Leukerbader Familienchalet seiner grossen Liebe Lucien Happersberger. Eine Retraite, die der Autor im nächsten Winter wiederholte – und das gerade deshalb, weil die Ödnis im 600-Seelen-Nest im Winter noch öder und weisser war.